Kulturelle Teilhabe im Alter: Herausforderungen und Möglichkeiten
Soziale Isolation und Depressionen treffen gerade alleinstehende Menschen im Seniorenalter überproportional oft. Um es nicht so weit kommen zu lassen, sind soziale Kontakte und kulturelle Teilhabe im Ruhestand besonders wichtig. Doch was genau versteht man unter „kultureller Teilhabe“, warum lässt sie im Alter nach und wie lässt sie sich wieder erreichen?
Was versteht man unter kultureller Teilhabe?
Fachleute wie Soziologen und Alterswissenschaftler nutzen den Begriff der kulturellen Teilhabe, um einen wichtigen Baustein eines befriedigenden Lebens zu umfassen. Doch was genau ist darunter zu verstehen?
Kulturelle Teilhabe – eine Definition
Wer kulturell an der Gesellschaft teil hat, hat die Möglichkeit, sinnvoll und selbstbestimmt an kulturellen Aktivität teilzunehmen, die zum Ausdruck der eigenen Persönlichkeit beitragen. Dabei variiert der Inhalt je nach den individuellen Ressourcen, der biografischen Prägung und dem persönlichen Geschmack. Auch Menschen unterschiedlicher Altersstufen füllen den Begriff für sich unterschiedlich aus – doch Literatur, Kunst und Medien sind die häufigsten genutzten Kanäle.
Welche Bereiche umfasst die kulturelle Teilhabe?
Kulturwissenschaftler teilen das Feld der kulturellen Teilhabe in drei Bereiche ein:
- Aktivitäten in den eigenen vier Wänden: z. B. Musik hören, Lesen, Filme schauen und die digitalen Medien nutzen
- Aktivitäten im öffentlichen Bereich: z. B. Theater- und Konzertbesuche, Kinoveranstaltungen, Museumsbesuche und die Besichtigung historischer Stätten und Denkmäler
- Aktivitäten zur Bildung der Identität: z. B. praktische künstlerische Tätigkeiten und die Mitgliedschaft in kulturellen Vereinigungen
Kulturelle Bildung: Voraussetzung für kulturelle Teilhabe
Hier geht es nicht nur darum, sich faktisches Wissen zu bestimmten Feldern von Kunst und Kultur anzueignen, sondern auch durch das Mittel der kulturellen Bildung bestimmte Schlüsselkompetenzen zu stärken. Die persönliche Reflexionsfähigkeit, Kreativität und Kommunikationsfähigkeit werden durch die Beschäftigung mit kulturellen Themen gestärkt – und zwar in jedem Lebensalter.
Kulturelle Bildung kann man deshalb auf zwei Weisen verstehen: Einerseits als gesteigertes Verständnis für bestimmte Kunstsparten wie Theater, klassische Musik oder Bildhauerei. Andererseits als angewandte künstlerische Techniken, die dabei helfen, allgemeine Fertigkeiten im Alter zu stärken oder zu gewinnen. Die kulturelle Bildung findet also sowohl „in der Kunst“ als auch „durch die Kunst“ statt.
Ein größeres Bild sehen können
Wer sich für Kunst und Kultur interessiert und sich stetig weiterbildet, erlangt fachliches Wissen und eine individuelle kreative Ausdrucksfähigkeit. Doch durch kulturelle Teilhabe können Menschen moderne Gesellschaften auch in einem größeren Zusammenhang sehen: Sie verstehen, wie Kulturformen und Künste es möglich machen, die Welt als Betrachter wahrzunehmen und sie als Gestalter zu prägen.
Warum ist die kulturelle Teilhabe gerade in höherem Alter wichtig?
Dass Bildung und kulturelle Aktivitäten die Lebensqualität und Zufriedenheit bei älteren Menschen steigern, wurde bereits durch Studien belegt. Psychologen vermuten, dass die kulturellen gesellschaftlichen Aktivitäten im Ruhestand an die Stelle der ehemals beruflichen Integration treten können.
So füllen sie eine gewisse Lücke, die nach dem Eintritt in den Ruhestand entsteht, und viele Senioren mit einem Verlust an Identität, Selbstwirksamkeit und Tagesstruktur zurücklässt.
Welche Herausforderungen bestehen in Bezug auf kulturelle Teilhabe?
Eigentlich sollten gerade Senioren die Möglichkeiten der kulturellen Teilhabe stärker ausschöpfen können als Berufstätige – immerhin haben sie meist mehr Zeit zur freien Verfügung. Doch Beobachtungen verschiedener Altersgruppen zeigen eine gegenläufige Tendenz:
Während die Altersgruppe der 45- bis 55-Jährigen sich kulturell durchschnittlich am aktivsten zeigt, nehmen die Aktivitäten ab 55 Jahren und besonders ab dem Rentenalter wieder ab.
Der Hintergrund: Bestimmte Lebensumstände im Alter können die Teilnahme an Kunst und Kultur stark einschränken. Das sind die Hauptprobleme:
Gesundheitliche Einschränkungen: Wenn Barrieren kulturelle Teilhabe verhindern
Hier liegt das Thema fehlende Barrierefreiheit im Fokus. Denn wer schlechter sieht, hört oder sich bewegen kann als ein junger gesunder Mensch, kann Kulturprogramme schlechter besuchen und weniger gut wahrnehmen.
Häufig bleiben Senioren mit gesundheitlichen Einschränkungen deshalb lieber in den eigenen vier Wänden und im engsten Umkreis, sodass die Vielfalt der Möglichkeiten kultureller Teilhabe sich drastisch reduziert.
Armutsgefährdung: Finanzielle Gründe können Teilhabe-Möglichkeiten einschränken
Kulturelle Teilhabe kostet Geld. Ganz gleich, ob es sich dabei um Eintrittskarten, Mitgliedschaftsbeiträge oder Bustickets handelt – man muss sich den Besuch kultureller Aktivitäten leisten können. Das kann besonders für viele Senioren zum Problem werden, da ihre Altersgruppe im Verhältnis zu anderen deutlich armutsgefährdeter ist.
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend meldet, dass 22,4 Prozent der Über-80-Jährigen unter der Einkommens-Armutsgrenze von 1.167 Euro im Monat leben müssen. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung beträgt der Anteil nur 14,8 Prozent.
Hier spielen die Einkommens- und Rentenunterschiede zwischen Männern und Frauen eine Rolle. Frauen haben eine etwas höhere Lebenserwartung, doch gerade die betroffenen Jahrgänge zeigen besonders unterschiedliche Berufsbiografien.
Frauen, die jetzt der ältere und hochaltrigen Bevölkerungsgruppe angehören, waren aufgrund ihrer Erziehungstätigkeit überwiegend nicht oder nur teilzeitberufstätig. Das mindert deutlich die Höhe ihrer Rente bzw. der ihnen im Alter zur Verfügung stehenden Vermögenswerte – und damit schwinden auch die Möglichkeiten kultureller Teilhabe.
Mobilitätseinschränkungen: Wenn die Erreichbarkeit mit Hürden einhergeht
Wer im ländlichen Raum lebt, muss für den Besuch kultureller Veranstaltungen oder Vereinsveranstaltungen meist in den nächstgrößeren Ort pendeln. Das mag für junge Menschen kein großes Problem darstellen; Ältere sind allerdings häufig in ihrer Mobilität eingeschränkt. Wenn das Seh- und Hörvermögen abnimmt, fühlen sie sich im eigenen Auto weniger sicher und ziehen zuweilen die Fahrt in Bus und Bahn vor.
Doch genau hier liegt das Problem: Einerseits ist das Netz öffentlicher Verkehrsmittel in vielen Regionen nur lückenhaft ausgebaut, andererseits bietet es in Randzeiten und am Wochenende zu wenige Verbindungen. Fahrgäste genießen dann wenig Flexibilität und müssen unter Umständen lange Wartezeiten in Kauf nehmen.
Gerade für körperlich eingeschränkte Senioren kommt hinzu: Vom Ticketverkauf, über die Lesbarkeit des Fahrplans bis hin zur Gestaltung der Haltestellen herrscht vielerorts keine Barrierefreiheit.
Demografischer Wandel in ländlichen Gebieten
Deutschland erlebt aktuell einen demografischen Wandel, in dem der Anteil älterer Menschen größer wird. Laut Statistischem Bundesamt kommen auf 100 Bundesbürger im Alter von 20 bis 65 Jahren zurzeit 37 Menschen über 65 Jahren. Dieser Wert betrug im Jahr 1950 noch 16 Personen.
Hinzu kommt, dass manche Regionen in Deutschland von der Überalterung stärker betroffen sind als andere. In vielen ländlichen Gebieten beträgt der Prozentsatz der Über-65-Jährigen weit mehr als ein Drittel, da jüngere Menschen in die Ballungszentren und Städte ziehen, die ihnen berufliche Chancen ermöglichen.
Das Problem: Die Infrastruktur, auch die kulturelle, fokussiert sich verstärkt auf die Bedürfnisse jüngerer Altersgruppen. Im ländlichen Raum wird sie deshalb abgebaut, reduziert oder nicht mehr weiterentwickelt, sobald die entsprechenden Altersgruppen abwandern.
Damit sind Senioren gleich doppelt benachteiligt: Von Vornherein wird nicht berücksichtigt, dass sie in punkto Lebensqualität noch stärker von kultureller Teilhabe profitieren als Berufstätige. Mit der Zeit bleiben sie in kulturell strukturschwachen Regionen zurück und können dieses Bedürfnis immer schlechter befriedigen.
Wichtig: Die Teilnahme am kulturellen Geschehen einer Gesellschaft wird als grundlegendes Menschenrecht aufgefasst. Im Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen ist verankert, dass Staaten hierfür eine entsprechende kulturelle Infrastruktur schaffen müssen, die Institutionen und Bildungsangebote umfasst.
In diesem Zusammenhang müssen auch politische Schritte unternommen werden, damit Senioren altersspezifische Barrieren (Mobilitätseinschränkungen, finanzielle Schwierigkeiten etc.) überwinden können, um wieder aktiv am Kulturleben teilzunehmen.
Wie und wo lässt sich kulturelle Teilhabe erreichen?
Neben der guten Erreichbarkeit kultureller Veranstaltungen braucht es noch einen zweiten Faktor, um die kulturelle Teilhabe von Senioren zu steigern: das passende Angebot.
Kulturgeragogik: Kulturelle Arbeit mit Älteren
Das Fachgebiet der Kulturgeragogik beschäftigt sich mit den Erwartungen, die Menschen im Alter 65Plus heute an Kulturveranstaltungen stellen. Im Gegensatz zum Kaffeefahrt-Klischee wollen moderne Senioren überwiegend nicht unterhalten werden, sondern verlangen nach kultureller Bildung.
Im Durchschnitt ist ihr Bildungsgrad höher als der früherer Alterskohorten, sodass sie wesentliche Kompetenzen mitbringen, die sie in Schule und Beruf erworben haben. Daher sollten Kulturveranstaltungen sowie Bildungsangebote, die sich an Ältere richten, darauf setzen, dass die Teilnehmer ihre eigenen Erfahrungen einbringen können. Beispiele dafür sind:
- Theatergruppen und Laienspielgruppen
- Digitalsprechstunden für Senioren
- digitale Stammtische
- künstlerische Kurse an der Volkshochschule
- Tanzkurse
- Lesungen mit Gesprächskreis (Dialog der Generationen)
Hinweis: Vereine und Veranstalter, die Kulturformate entwickeln, welche sich speziell an Senioren richten, können in vielen Bundesländern finanzielle Förderungen beantragen. Der Fokus liegt dabei häufig auf generationsübergreifenden Elementen sowie der Verbindung zwischen analoger und digitaler Welt.
Die kulturelle Teilhabe im Alter braucht Barrierefreiheit
Viele Initiativen zur Barrierefreiheit von Kulturveranstaltungen entstammen der Arbeit von gemeinnützigen Vereinen. So hat der Stuttgarter Verein „Kultur für alle“ einen Leitfaden erarbeitet, der die Bausteine für barrierefreie Kulturbesuche nennt. Wichtige Elemente dabei sind unter anderem:
- Die Gestaltung der Informationsmaterialien: Broschüren und Programmhefte sollten so designt werden, dass auch Menschen mit Sehschwäche die enthaltenen Informationen erfassen können. Das betrifft sowohl die Schriftgröße als auch den Kontrast und das Material. So sollten Plakate oder Flyer mit glatten und spiegelnden Oberflächen nicht zum Einsatz kommen.
- Benutzerfreundlichkeit der Homepage: Kulturveranstalter sollten sicherstellen, dass ihre Homepage auch für Menschen mit Einschränkungen gut navigierbar ist (z. B. über die Tastatur, per Zoomfunktion oder mit dem Screenreader). Für das Lesen mit dem Screenreader sollten beispielsweise alle Fotos und Grafiken zusätzlich mit Text hinterlegt werden, der die Bilder beschreibt.
Besonders hilfreich ist es, wenn bereits online darüber informiert wird, welche Maßnahmen zur Barrierefreiheit bei einer Kulturveranstaltung vor Ort ergriffen werden (z. B. Behindertenparkplätze und Rollstuhlrampe).
- Barrierefreie Veranstaltungsräume: Kulturveranstaltungsräume sollten über barrierefreie Zugänge verfügen mit Türöffnern in Sitzhöhe sowie ausreichend Flurbreite zum Rangieren eines Rollstuhls. Für Menschen mit Sehbehinderung ist es wichtig, Glastüren mit visuell kontrastierenden Elementen sichtbar zu machen und eine Blindenführlinie anzubringen.
- Ausstellungsobjekte für alle: Wie sich eine Kulturveranstaltung so gestalten lässt, dass alle teilhaben können, hängt stets von der individuellen Situation ab. In Museen besteht beispielsweise die Möglichkeit, Vitrinen niedriger anzubringen oder höhenverstellbar zu gestalten, damit Rollstuhlfahrer (und Kinder) sie besser einsehen können.
Filme können für Hörgeschädigte mit Untertiteln unterlegt werden, Lesungen in Gebärdensprache übersetzt werden. Spezielle Audio-Guides durch Ausstellungen helfen hingegen sehbehinderten Besuchern.
Fazit: Mit den richtigen Maßnahmen kulturelle Teilhabe ermöglichen
Kulturelle Teilhabe ähnelt dem Fahrradfahren: Wer zeitlebens praktiziert hat, wird auch im Ruhestand kaum damit aufhören. Dennoch gibt es einige Elemente, die den Besuch von Kulturangeboten im Alter erschweren können – insbesondere im Bereich der Barrierefreiheit. Hier schafft die Arbeit von Inklusions-Initiativen und Vereinen die entsprechende Aufmerksamkeit, damit Kultur für alle möglich wird.
Für interessierte Senioren hingegen kann das Engagement in den entsprechenden Vereinen besonders erfüllend sein. Fest steht: Kulturelle Teilhabe sollte auch im hohen Alter möglich sein und in Anspruch genommen werden.