Unsichtbare Krankheiten und Behinderungen
Ein gebrochenes Bein ist leicht am üblichen Gipsverband zu erkennen. Erkältungskrankheiten äußern sich in kaum zu übersehenden und zu überhörenden Symptomen. Eine Querschnittslähmung geht meist einher mit der Nutzung eines Rollstuhls als einfach zu identifizierendes Zeichen der körperlichen Beeinträchtigung.
Doch längst nicht alle Erkrankungen und Behinderungen sind auf den ersten Blick erkennbar. Sie verbergen sich den Augen von Außenstehenden und verursachen den Betroffenen dennoch Schmerzen oder psychische Leiden.
Unsichtbare Krankheiten und Behinderungen bedeuten nicht weniger Einschränkungen als jene, die deutlich sichtbar sind. Im Gegenteil bedeuten sie vielfach zusätzliche Unannehmlichkeiten: Denn diese Art von Krankheiten wird immer noch häufig gesellschaftlich stigmatisiert und von Vorwürfen durch Menschen begleitet, die die Besonderheiten unsichtbarer Erkrankungen nicht verstehen können. Deshalb ist es umso wichtiger, über diese unsichtbaren Krankheiten und Behinderungen zu sprechen – und Vorurteile abzubauen.
Was sind unsichtbare Behinderungen und Erkrankungen?
Es gibt zahlreiche Behinderungen und Erkrankungen, die sich der Wahrnehmung des Umfelds der Betroffenen entziehen. Während diese sehr genau spüren und wahrnehmen, was ihre jeweilige Krankheit oder Behinderung mit ihnen, ihren Körpern oder ihrer Psyche macht, können Außenstehende nichts davon erkennen. Es gibt keine sichtbaren Symptome und somit bleibt die Krankheit für andere Menschen unsichtbar.
Mehr als das bloße Auge sieht
Das kann so weit gehen, dass es eine deutliche Diskrepanz gibt zwischen dem, was wir sehen können und dem, was wirklich hinter diesem äußeren Anschein steckt:
- Hinter dem Lächeln im Gesicht steckt womöglich die Einnahme notwendiger Medikamente, die die Schmerzen erträglicher machen.
- Die Anzeichen für Müdigkeit und Erschöpfung verschwinden hinter Make-up.
- Operationsnarben und Ausschläge sind unter der Kleidung vor den Augen anderer verborgen.
- Angst, Depressionen oder andere psychische Leiden werden medikamentös eingedämmt oder hinter der Fassade der Normalität versteckt.

Unsichtbare Krankheiten werde den Betroffenen häufig als Schwäche, Faulheit oder selbstverschuldet ausgelegt. | © Siphosethu Fanti/peopleimages.com – stock.adobe.com
Viele Krankheiten sind „unsichtbar“
Die oben beschriebenen Phänomene sind keineswegs auf einige wenige, seltene Krankheiten oder Behinderungen beschränkt. Zu den „unsichtbaren“ Erkrankungen und Einschränkungen zählen viel mehr solche, die weit verbreitet und bekannt sind.
Multiple Sklerose, Diabetes, Epilepsie, Krebs oder Gehörlosigkeit gehören ebenso dazu wie die zahlreichen psychischen oder chronischen Erkrankungen. Dass es sich dabei um gewissermaßen „prominente“ Krankheitsbilder handelt, ändert nichts an den Schwierigkeiten, die über die üblichen Symptome und Beschwerden hinausgehen.
Denn vielfach ist es nicht nur die Krankheit selbst, die für die Betroffenen eine Belastung darstellt. Es ist häufig auch der Umgang von Umfeld und Gesellschaft mit solchen Erkrankungen.
Beispiel Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS)
Bei Myalgischer Enzephalomyelitis bzw. dem Chronischen Fatigue-Syndrom handelt es sich um eine multisystemische, neuroimmunologische Erkrankung. Sie kann zu einem hohen Grad an körperlicher Behinderung führen. Als neurologische Krankheit wurde ME/CFS zwar bereits 1969 klassifiziert, vieles ist aber nach wie vor ungeklärt.
Stärker ins gesellschaftliche Interesse wurde ME/CFS gerückt, weil es eine Folgeerkrankung vieler mit COVID-19 Erkrankter war und ist. Experten gehen davon aus, dass sich die Zahl der Betroffenen allein in Deutschland von vorher etwa 250.000 verdoppelt hat.
Begleitet wird das Chronische Fatigue-Syndrom von einer Reihe von Symptomen, die von grippeähnlichen Symptomen über Schwindel bis zu Gedächtnisstörungen, Muskelschmerzen und Schlafstörungen reichen. Viele Patienten sind bettlägerig und können das Haus nicht verlassen, nach Schätzungen ist über die Hälfte der Betroffenen arbeitsunfähig.
Zu der üblichen Problematik einer unsichtbaren Krankheit, die sich auch bei ME/CFS zeigt, kommen zwei weitere Aspekte hinzu, die den Umgang erschweren: Zum einen lässt der Forschungsstand bislang zu wünschen übrig – umfangreichere Studien laufen erst seit Kurzem an.
Zum anderen vermittelten frühere Bezeichnungen wie Chronisches Erschöpfungssyndrom oder Chronisches Müdigkeitssyndrom keinen angemessenen Eindruck von der Schwere und Komplexität der Erkrankung und ihres Verlaufs. Denn bei ME/CFS reicht es bei weitem nicht aus, sich ausreichend zu erholen oder regelmäßig einer körperlichen Aktivität nachzugehen.
Mehr Informationen und einen umfangreichen Überblick rund um das Chronische Fatigue-Syndrom bietet die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS e. V.
Vom Kampf gegen Stigmatisierung und Vorurteile
Unsichtbare Krankheiten sorgen bei Außenstehenden häufig für Unverständnis – und daraus entstehen für die Betroffenen zusätzliche Belastungen. Aus dem Unverständnis folgen nicht selten Vorurteile und Stigmatisierungen. Bei vielen Krankheiten sind es auch völlig falsche Einschätzungen der Leiden von Betroffenen, die zu sehr von den eigenen Erfahrungen ausgehen.
„Dann hab‘ ich auch ADHS…“
Fehleinschätzungen zur wirklichen Belastung einer unsichtbaren Erkrankung oder Behinderung haben ihren Ursprung oft darin, dass die Symptome eben nicht nur bei den Betroffenen auftreten. Konzentrationsschwächen wie bei ADHS, Müdigkeit und Erschöpfung wie bei ME/CFS (Chronisches Fatigue-Syndrom) oder Schmerzen wie bei Rheuma oder Fibromyalgie kennen Gesunde aus ihrer Alltagserfahrung ebenfalls.
Aus dieser Erfahrung heraus wird dann geschlossen, dass die Betroffenen die Schuld an ihrem Zustand selbst tragen. Sie hätten zu wenig geschlafen, sie müssten nur „die Zähne zusammenbeißen“. Ausgeblendet wird dabei, dass die Zustände eben keine vorübergehenden Erscheinungen sind – sondern ständige Begleiter der Erkrankten.
Die üblichen Ratschläge helfen daher nicht, sie vermitteln vielmehr den Eindruck, die Krankheit oder Behinderung klein reden zu wollen: Weil alles im Grunde doch nicht so schlimm sein kann. Weil man sich nicht anstellen solle. Weil dann jeder ADHS hat, der schon einmal zerstreut war. Oder weil jeder unter Depressionen leidet, der schon einmal einen schlechten Tag hatte.
Dass es sich aber um ernste Erkrankungen und Behinderungen handelt, wird dabei verkannt.
Bekanntere Krankheiten werden gesellschaftlich eher anerkannt
Experten wissen, dass Vorurteile gegenüber vielen unsichtbaren Erkrankungen und Behinderungen nicht zuletzt mit deren Bekanntheit zusammenhängen. Krebspatienten sehen sich deshalb kaum mit Verurteilungen und Klischeedenken konfrontiert, im Vergleich zu anderen Diagnosen.
Besonders schlecht ist es um eine breite gesellschaftliche Anerkennung bei psychischen Erkrankungen und Suchterkrankungen bestellt. Hier sind Diskriminierungen am häufigsten zu beobachten. Körperliche somatische Erkrankungen (also beispielsweise chronische Schmerzerkrankungen aufgrund psychosozialer Faktoren) sind ein ähnlicher Fall. Am größten ist die Anerkennung für Erkrankungen, bei denen die Sinnesbeeinträchtigungen deutlich sichtbar sind.
Aus Vorurteilen werden Diskriminierungen und Stigmatisierungen
Oft bleibt es nicht bei Unverständnis und fehlender Anerkennung für unsichtbare Krankheiten. Vielfach sind Betroffene außerdem Diskriminierungen oder Stigmatisierungen ausgesetzt. Aus Unverständnis werden dann Vorwürfe und regelrechte Anfeindungen.
Die Abwertungen fangen im Grunde schon dort an, wo die Krankheiten und ihre Folgen nicht ernstgenommen und heruntergespielt werden. Bei manchen Krankheitsbildern geht das so weit, dass den Betroffenen regelrecht abgesprochen wird, überhaupt krank oder behindert zu sein.
Die Verurteilungen können sich sehr unterschiedlich ausdrücken, obwohl das an ihrer Wirkung auf die betroffenen Menschen kaum einen Unterschied macht. Ein „Paradebeispiel“ in dieser Hinsicht sind nach wie vor psychische Erkrankungen. Denn hier greifen verschiedene negative Stereotype:
- Schizophrenie wird von vielen Nichtbetroffenen als besonders fremdartig wahrgenommen, denn es fehlt die Vorstellung davon, wie die Krankheit „funktioniert“. Hinzu kommt, dass Schizophrenie sehr oft mit Gewalttätigkeit und Unberechenbarkeit assoziiert wird, Betroffene gehören in Psychiatrien und von der Gesellschaft ausgeschlossen.
- Bei Suchterkrankungen wie Alkoholismus reicht die Stigmatisierung von mangelnder Disziplin bis hin zu fehlender Selbstverantwortlichkeit: Suchtkranke hätten demnach selbst Schuld an ihrem Zustand, weil sie sich einfach nicht im Griff hätten.
- Das gilt in ähnlicher Weise für Depressionen, auch wenn sich der Blick auf diese Erkrankung in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Das ist nicht zuletzt prominenten Vorbildern anzurechnen, die offen über ihre Krankheit und die Folgen sprechen.
Leben mit dem Stigma
Die Stigmatisierung ist auf verschiedenen Ebenen ein schwerwiegendes Problem für die Betroffenen. Sie werden mit Diskriminierung und Ausgrenzung konfrontiert, was unter anderem im Berufsleben oder bei der Wohnungssuche, nicht selten aber auch im unmittelbaren Umfeld zu einer großen Belastung wird.
Oft verinnerlichen psychisch erkrankte Menschen diese Stigmata und damit einhergehende Diskriminierung – und erfahren damit eine sogenannte „zweite Erkrankung“. Diese verursacht zusätzlichen Stress, wird von nicht wenigen Betroffenen als noch stärkere Belastung als die eigentliche Erkrankung empfunden und beeinflusst somit die Lebensqualität negativ.
Das Selbstwertgefühl leidet, Erkrankungen wie Depressionen werden aus Scham eher geheim gehalten, als sie offen zu kommunizieren – nicht einmal gegenüber Angehörigen oder engen Freunden. Manchmal braucht es dazu nicht viel, vermeintlich scherzhafte, abfällige Bemerkungen können verantwortlich für einen sozialen Rückzug oder das Schweigen über die eigene Krankheit sein.
Schwierig ist eine solche Entwicklung im Hinblick auf Diagnosen und Behandlungen. Unter Umständen werden Krankheiten dadurch nicht rechtzeitig oder gar nicht diagnostiziert. Dabei sind die Behandlungsmöglichkeiten für psychische Erkrankungen heute weit fortgeschritten und das direkte Umfeld ist eine wichtige (soziale) Ressource für die Unterstützung der Betroffenen und ihres Heilungsprozesses.

Kampagnen und öffentliche Diskussionen helfen beim offenen Umgang mit unsichtbaren Krankheiten – für mehr Verständnis und weniger Vorurteile. | © qunica.com – stock.adobe.com
Unsichtbare Erkrankungen sichtbar machen
Wie kann ein besserer Umgang mit unsichtbaren Erkrankungen gelingen? Wie können sie sichtbarer gemacht werden, um das Verständnis und die Anerkennung zu vergrößern? Eine einfache Antwort auf diese Fragen gibt es nicht.
Das hängt zum Beispiel mit der Dynamik gesellschaftlicher Vorstellungen zusammen. Eine 2023 veröffentlichte Untersuchung etwa konnte aufzeigen, dass sich die Einstellungen zu psychischen Erkrankungen in Deutschland sehr verändert haben – und dies weiterhin tun.
Ob diese Veränderung zum Guten oder zum Schlechten neigt, hängt jedoch stark von der Krankheit selbst ab. Längst nicht in allen Fällen hat sich das Verständnis verbessert. Dennoch war im Zuge der Corona-Pandemie zu beobachten, dass psychische Belastungen und Erkrankungen in den öffentlichen Debatten mehr Platz erhielten.
Tabus aufbrechen und unsichtbare Krankheiten öffentlich machen
Wichtig für die Betroffenen ist die Erfahrung, dass ihre Erkrankung oder Behinderung kein Tabu sein muss. Um Stigmata und Tabus aufzubrechen, braucht es jedoch häufig Unterstützung von außen.
In Großbritannien zum Beispiel hat die „Time-to-Change“-Kampagne gegen Stigmatisierung dazu beigetragen, dass offener über psychische Krankheiten gesprochen wird. In Deutschland zeigen Comedians wie Torsten Sträter (unter anderem als Schirmherr der Deutschen Depressionsliga DDL) und Kurt Krömer, wie wichtig der offene Umgang mit unsichtbaren Erkrankungen ist, um Vorurteile abzubauen und die eigene Perspektive sichtbar zu machen.
Auch andere Vereinigungen machen sich stark für die Betroffenen, wie die Deutsche Rheuma-Liga. Diese Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, über auf den ersten Blick unsichtbare Erkrankungen und Behinderungen zu sprechen – und sie sichtbar zu machen. Denn nur so kann Verständnis von Seiten der gesunden Menschen entstehen. Und nur so finden Betroffene den Mut, ihre Krankheiten nicht länger zu verstecken.